AKTUELLES / BERICHT DES KREISVORSITZENDEN ZUR EUROPAPOLITISCHEN SITUATION (20.05.2010)

„Die Europäische Union ist langweilig geworden. Sie schnurrt wie eine große Maschine vor sich hin…“ So beginnt eine Woche nach der letzten Europawahl im Juni 2009 ein umfangreicher Zeitungskommentar (von Gerd Appenzeller im Berliner Tagesspiegel). Daneben wird dort eine Karikatur einer weinenden „Europa auf der Couch“ gezeigt mit dem Ausruf „Keiner liebt mich“. Der Untertitel des Kommentars lautet: „Lehren aus einem Europawahlkampf, den die Politik vergeigte und der die Menschen nicht wachgerüttelt hat.“

Ist die europapolitische Situation wirklich so deprimierend oder ist heute - nach dem Inkrafttreten des Lissabon - Vertrages am 1. Dezember letzten Jahres - nicht doch ein positiverer Blick auf die Zukunft Europas angebracht – vor allem für Europa – Idealisten, wie wir von der Europa-Union es sind?

Seit meinem letzten „europapolitischen Bericht“ an die Mitgliederversammlung unseres Kreisverbandes sind vier Jahre vergangen. Damals (2006) standen drei Themen im Mittelpunkt: die EU - (Ost) Erweiterung (zum 1. Mai 2004), die Europawahl 2004 und der (damals an den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005 gescheiterte) Verfassungsvertrag.

Wie wir wissen, ist von diesen Themen die Osterweiterung, das vergrößerte „27er“ - Europa mittlerweile bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Europawahl ist zwar nach wie vor kritikwürdig (wie noch zu behandeln sein wird). Der Verfassungsvertrag aber ist nach dem 2008 erst negativen, dann 2009 aber positivem Referendum in Irland immerhin als „Lissabon“-Vertrag zustande gekommen und als neue doch fortschrittliche Grundlage für die erweiterte Europäische Union bereits einige Zeit in Anwendung. Zum Verhältnis dieses Vertrages zur Eigenstaatlichkeit Deutschlands und vor allem der „Integrationsverantwortung“ der Bundes- u. Länderparlamente hat das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 wiederum eine wichtige Entscheidung getroffen und die Grundgesetzkonformität des Vertrages durch ein verbessertes Begleitgesetz (vom Sept.2009) bewirkt.

Leider wird dieser Überblick im Mai 2010 überlagert (um nicht zu sagen „überschattet“) von der aktuellen, uns seit einigen Wochen mit Sorge erfüllenden EURO-Krise um Griechenland (und andere!), so dass kaum Ruhe bleibt für eine besonnene Rückschau:

Zwar ist -wie zitiert- die politische Kritik an der Europawahl berechtigt. Durch die bloße Listenwahl kann der Wähler keinen (vor allem nicht „seinen“) Abgeordneten wählen. Ohne eine wirkliche Wahlrechtsreform wird diese Wahl weiter mehr für die Parteien als für den Wähler interessant bleiben!
Trotzdem: Die europäische Integration insgesamt, das „Projekt Europa“ ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte, die noch lange nicht zu Ende ist – im Gegenteil: Sie tritt in eine neue Phase.
Europa hat (wie es unser Landesvorsitzender Markus Ferber kürzlich formuliert hat) eine ganze Generation geprägt – „eine neue Generation Europa“.

Diese (Nachkriegs-) Generation hat den Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, den Beginn der (jetzt bereits 60 Jahre währenden) deutsch-französischen Aussöhnung nicht mehr selbst miterlebt. Sie betrachtet die Vorteile der europäischen Einigung mit seinem Binnenmarkt, den offenen Grenzen (Schengener Abkommen von 1985, realisiert ab 1995), der gemeinsamen Währung (Euro 2002), der deutschen Wiedervereinigung und dem Wegfall des eisernen Vorhangs nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme (1989 mit der EUOsterweiterung seit 2004) als selbstverständliche Realität, obwohl es sich hierbei um das größte Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte für einen ganzen Kontinent und jetzt 500 Millionen Menschen in 27 Staaten handelt.

Eigentlich wollte ich den Überblick hier schon damit abschließen, dass ich auf die Diskussion der weiteren Ziele und Perspektiven Europas in Sinne einer „Finalitäts“ - Debatte hinweise und dort auf die beiden Pole „Vertiefung“ einerseits (Stichwort: Subsidiarität) und „Erweiterung“ andererseits (Stichwort: Türkei), wobei (auch ohne Eurokrise) viel dafür spricht, erst die 27er – Gemeinschaft zu vertiefen und zu konsolidieren, bevor man eine derart große Erweiterung wie um die Türkei (wenn überhaupt) angehen sollte.

Ich bin mir aber nicht mehr sicher, ob wir diese Diskussionen bald wieder fortführen können oder ob uns nicht doch die Eurokrise noch länger davon abhält, denn deren Problemwurzeln dürften tiefer liegen und noch intensiverer (schmerzhafter?) Behandlung bedürfen! Nicht ganz unberechtigt fliegen uns in den letzten Tagen und Wochen drastische Schlagzeilen und Bilder um die Ohren, die gerade uns „Europaidealisten“ besonders wehtun. Von „Euro- Alarm“ (Focus 19/10), „Euro retten = Europa retten“ (SZ 30.4.10) „Europa packt eine kalte Ahnung von dem Währungs-GAU“ (SZ 15.5.10) ist in Kommentaren jetzt sogar schon die Rede und nicht mehr nur von „Langeweile“!

Die Europäer bekommen vor allem Angst vor einer großen Inflation, so wie dies die ganz Alten in Deutschland mit den Währungsreformen von 1925 und 1948 noch selbst erlebt haben. Wir alle haben aber auch die Krise der Banken und deren Rettung im Okt. 2008 noch nicht verdaut, die uns deutsche Steuerzahler bis zu 470 Mrd. Euro kosten könnte.
Während dort viele noch (relativ berechtigt) darauf hoffen, dass diese Banken-Garantien usw. nicht wirklich zu bezahlen sind, sind wohl die allermeisten in der EURO - Finanzkrise (wohl sogar mit Recht) wesentlich skeptischer und glauben, dass der deutsche Anteil am griechischen Rettungsschirm von 22,4 Mrd. € und der neue „Europäische Stabilisierungsmechanismus“ für alle europäischen Pleitestaaten, die gerne als PIIGS oder auch GIPSI abgekürzt werden (Portugal, Italien, Irland, Griechenland u. Spanien) (und vielleicht sogar noch mehr?) mit seinen insgesamt 750 Mrd € und seinem deutschen Anteil von 123 Mrd. € tatsächlich zur Auszahlung kommen.
Sie glauben nämlich nicht mehr daran, dass die Staatsverschuldungen mit „harten Sanktionen“ wirklich ausreichend zurückgefahren werden können. Wie schwer so etwas in einem „reichen“ Land ist, erfahren wir seit Jahren bei uns im eigenen Haus! Dass die noch viel drastischeren Sparmaßnahmen in diesen Staaten oder auch das „An die Kandare-Nehmen“ der Finanzwirtschaft gelingt, muss allerdings in unser aller Interesse und Streben in Europa sein.
Weitere Nachlässigkeiten wie etwa bei der Griechenlandaufnahme in den Euro aber auch die Toleranz ständiger Überschreitungen der Euro-Stabilitätskriterien werden wir uns nicht mehr leisten können. Deswegen brauchen wir eine zu wirklichen Opfern bereite europäische Solidarität aller Beteiligten!

Denn es geht nicht nur um den EURO - sondern um die Zukunft EUROPAs!